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Lebendige Peripherien

Wachsen - Erhalten - Schrumpfen

Anlass für diese Analyse ist der letzte Bericht des Rates für Raumordnung (ROR) vom 22. Februar 2024 mit dem Titel „Lebendige Peripherien in der Schweiz: Transformation gemeinsam gestalten“.

Es gibt zwei Gründen, weshalb dieser Bericht bekannt gemacht werden soll:  Erstens ist es meines Wissens der erste Bericht auf Bundesebene, der die Problematik der Peripherie thematisiert. Zweitens fordert er die betroffenen Gemeinden dazu auf, sich bewusst für eine der drei möglichen Entwicklungspfade zu entscheiden: wachsen, erhalten oder schrumpfen. 

Mit anderen Worten, es sollte keine Gemeindeentwicklung mehr dem Zufall überlassen werden. 

 

Ausgangslage

Als Ausgangslage dient mein Blog „Bevölkerungsperspektive Graubündens 2020-2050. Wer stoppt die Abwärtsspirale?“ vom 9. März 2022. Die Daten basieren auf der Statistik des Bundesamt für Statistik (BFS). Für den Kanton Graubünden hat das Amt für Raumentwicklung Graubünden (ARE) drei Perspektiven veröffentlicht, die ich im Folgenden zusammenfasse:

 

Bevölkerungsperspektive Regionen GR 2020-2050 in % 

 

 

Regionen Szenario Tief Szenario Mittel Szenario Hoch
 Albula -28.5 -22.8 -16.5
Bernina -17.6 -14.3 -12.1
Engiadina Bass/Val Müstair -30.8 -22.8 -16.8
Imboden 5.7 15.0 28.5
Landquart  1.7 13.4 21.0
Maloja -26.6 -16.4 -9.2
Moesa -18.4 -8.8 -2.0
Plessur -5.2 0.0 8.0
Prättigau/Davos -25.0 -9.7 13.9
Surselva  -26.7 -18.2 -10.8
Viamala  -10.4 -0.6 6.0
       

Quelle: Amt für Raumentwicklung Graubünden (ARE)

Ich wiederhole die wichtigste Erkenntnis daraus: Bei allen drei Szenarien ist eine allgemeine Tendenz zur Schrumpfung der Bevölkerung festzustellen. Und dies bei einem schweizweiten Durchschnittswachstum der Bevölkerung von 10.1 %. 

 

Dass nicht alle Gebiete der Schweiz gleichmässig wachsen, oder gar schrumpfen, ist es dem Raum für Ordnung (ROR) nun aufgefallen. Das ist die erste Neuigkeit. Die zweite Neuigkeit ist, dass meines Wissens ein Gremium auf Bundesebene zum ersten Mal gewagt hat, den Begriff „Peripherie“ zu verwenden und zu thematisieren. Warum hat man so lange gezaudert? 

 

Grundsätzliches über den ROR

Der Raum für Entwicklung (ROR) wurde 1997 vom Bundesrat als ständige ausserparlamentarische Kommission eingesetzt. Er berät den Bundesrat und die Bundesstellen, die für Regionalpolitik und Raumentwicklung zuständig sind, nämlich des Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), in Grundsatzfragen der räumlichen Entwicklung. 

 

Der Rat besteht aus 15 Mitgliedern aus Wirtschaft, Hochschulen und Raumentwicklungsgremien, und deckt die drei Hauptsprachräume des Landes ab.

 

Der Rat erlässt Empfehlungen, die zwar nicht verbindlich, doch wohl wegweisend sind. Frühere Berichte des ROR sind z.B. „Megatrends und Raumentwicklung Schweiz“ vom 01.05.2019, „Die Raumtypen der Schweiz schematisch dargestellt“ vom 01.05.2019, „Megatrends und Raumentwicklung Schweiz“ vom 18.12.2019. Diese Analysen bezeichne ich meist als zutreffend und glaubwürdig. Sie kommen aber leider zu spät und haben ein eingeschränktes Bild der Berggebiete.  

 

 

Der Zentrum-Peripherie-Gegensatz: eine marxistische Theorie

Weshalb der Zentrum-Peripherie-Gegensatz bisher in der Schweiz unerforscht blieb, liegt auf der Hand. Der Zentrum-Peripherie-Gegensatz ist eine marxistische Theorie, also für die wirtschaftsliberale Schweiz ein Tabou. Diese Theorie wurde im 19. Jahrhundert von Karl Marx angewendet, um das Machtverhältnis zwischen Zentrum, nämlich westeuropäischen Kolonialmächten, und der Peripherie, also ihren Kolonien in Afrika und Asien darzustellen. Dabei hat Marx die jeweiligen Funktionen klar definiert: Die ersten beuten die natürlichen Ressourcen aus, die zweiten liefern sie, wobei der Preis für die Ressourcen von Akteuren im Zentrum festgelegt wird. In diesem Verhältnis hat die Peripherie klar das Nachsehen, gelinde ausgedrückt. 

 

Man kann sich leicht ausmalen, weshalb diese Theorie in der Schweiz bisher keine Verwendung gefunden hat. Man könnte auf die Idee kommen, ein ähnliches Machtverhältnis zwischen den Kantonen damit ausdrücken. Was dem politischen Egalitätsprinzip widersprechen würde und einen gröberen Konflikt entfachen könnte. 

 

Jedenfalls hat der Rat für Raumordnung diese Gefahr elegant umschifft, indem er in seinem Bericht 5 Typen von Peripherien definiert hat: 

 

  1. städtische Peripherien
  2. Agglomerationsperipherien
  3. Regionalzentren
  4. ländliche Peripherien 
  5. Berggebiete-Peripherien (1) 

Mit diesem Approach besteht die Schweiz mit Ausnahme der grossen Ballungszentren an den Grenzen aus lauter Peripherien. Peripherie ist in der Schweiz also kein Ausnahmezustand, sondern die Regel. Wenn die Peripherie wächst, verstärkt sie sich auch und entwickelt Gegenkräfte. Die Dynamik kann soweit gehen, dass Zentren verschwinden! Laut ROR ist die Schweiz dort angelangt, nämlich an dem Punkt, an dem die Peripherien nicht mehr zwangsläufig verkommen müssen, sondern auch andere Optionen haben. Es gilt nun, die Gelegenheit nicht zu verpassen und den Handlungsspielraum auszunützen.

 

Auf eine Definition der Peripherie verzichtet der Rat für Raumordnung genauso und beschreibt viel mehr einen Zustand der Isolierung, der baulichen Verlotterung, der Abhängigkeit vis-à-vis des Zentrums und der mangelnden Finanzressourcen und Manpower.

 

Die 5 Megatrends (Globalisierung, demographischer Wandel und Migration, Individualisierung, Digitalisierung und Klimawandel) sowie die Transformationsprozesse, welche die Schweizer Gesellschaft auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung und einem Netto-Null-Ziel begleiten und prägen, haben den Zentrum-Peripherien-Gegensatz verschärft. 

 

Chancen, Risiken und ... immer dieselben Litaneien

Für jeden Typ Peripherie sieht der Rat Chancen und Risiken. Ich beschränke mich hier auf die Berggebiete-Peripherien: 

 

„Die Berggebiete-Peripherien befriedigen das gesellschaftliche Bedürfnis nach analogen Erlebnissen wie Wandern, Genuss und Pflege von Landschaft oder das Philosophieren. Speziell junge Menschen arbeiten gerne temporär in Coworking Spaces, die dank der Digitalisierung schnelle Internetverbindungen aufweisen, um sich in ihrer Freizeit den zahlreichen Möglichkeiten zu Abenteuer, Bewegung und Entspannung zu widmen und mit Gleichgesinnten unterwegs zu sein. Klettern im Sommer, Freeriden im Winter oder Biken das ganze Jahr hindurch sind Beispiele. Die dezentralen Arbeitsorte werden auch von internationalen Gästen frequentiert, die mit der Zeit zu Zweitheimischen werden und mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung und ihren Netzwerken mithelfen, Lösungen für den Zielkonflikt zwischen Nutzen und Schützen sowie neuen Wirtschaftsformen zu finden.“ (2)

 

Dass dem Rat keine ertragfähigeren bzw. personalintensiveren Wirtschaftsquellen als Tourismus und Energiegewinnung einfällt, ist keine Überraschung. Im Gegensatz zu alldem, was behauptet wird, ist die Wirtschaft (mitsamt ihren Akteuren) ein äusserst träges System. Ohne Staatssubventionen und Modellen aus innovativeren Ländern zu kopieren, bewegt sich die hiesige Wirtschaft nicht viel.

 

Dem widerspricht der Rat nicht, wenn er meint: „(…) es bestehen in den Peripherien aufgrund anderer Rahmenbedingungen (z.B. weniger hohe Kosten für Boden, Arbeit und Kapital, reduzierter Wettbewerbsdruck, spezifische Förderinstrumente, Freiräume) gute Möglichkeiten zum Experimentieren. Die öffentliche Hand soll diese Prozesse und Initiativen primär ermöglichen, soweit möglich aktiv unterstützen und die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.“ (3)

 

Dennoch ist Schrumpfen für die Berggebiete keine Fatalität. Der Rat sieht für die Peripherien 3 Entwicklungspfade: 

 

  1. Wachsen, wo die Transformation einen Mehrgewinn bringt; 
  2. Erhalten, wo Freiräume geschützt werden müssen;
  3. Schrumpfen, wo der Zusammenhang gefährdet ist. (4)

Schrumpfen ist also die ultima ratio. Wenn Wachsen und Erhalten versagt haben oder wenn sie sich nicht bewerkstelligen lassen, kommt Schrumpfen zum Tragen. Die Gemeinden sollten ihrer Bevölkerung diese drei Entwicklungspfade eröffnen und ihr die Konsequenzen vor Augen führen.  

 

Schlussfolgerungen

Mit schrumpfender Bevölkerung hat die Bündner Bevölkerung und Politik seit Jahrzehnten gelernt zu leben. Beide Gruppen haben diesen Zustand verinnerlicht und empfindet ihn als „natürlich“. Sie schätzen, dass der Aufwand für ein Erhalten, geschweige denn für ein Wachsen, die Mittel haushoch übersteigen würde und dass es nicht im Interesse einer schrumpfenden Gemeinde sein kann, dagegen zu kämpfen. 

Selbstverständlich ist auch Demographie ein träger Prozess. Wenn ein Trend eingesetzt hat, so bleibt er in der Regel für die nächsten 20-30 Jahre unverändert. Es sei denn, ein Ereignis mit grosser Einwirkung auf die Bevölkerungszahl tritt ein. Negativ entwickelt sich ein Krieg, eine Naturkatastrophe oder das schleichende Abwandern der Jugend. Als positiv hingegen wirkt Binneneinwanderung (wie leider kurzfristig während der Coronapandemie) oder eine dauerhafte Immigration. 

 

Faktoren, welche die Binneneinwanderung oder die Immigration bevorzugen, können steuerlicher oder raumplanerischer Natur sein. Wichtig ist aber, dass die betroffenen Gemeinden eine langfristige Strategie entwickeln, die möglichst vielen sozioökonomischen Faktoren Rechnung tragen, die das Leben in den Bergdörfern wieder attraktiv machen.

 

Schrumpfen ist nicht zwangsläufig die einzige Option für die meisten Bündner Gemeinden. Aber wenn sie das beschliessen, dann nach Einbezug der Bevölkerung, in voller Kenntnis der Sachlage und nicht ohne vorher die anderen Varianten Erhalten und Wachsen vertieft geprüft zu haben.

 

Virginia Bischof Knutti@22.04.2024

 

 

Quellen

(1) Rat für Raumordnung (ROR), Lebendige Peripherien in der Schwez: Transformation gemeinsam gestatten, Bern, 2023, S. 10-11, https://www.are.admin.ch/are/de/home/raumentwicklung-und-raumplanung/koordinationsorgane-und-zusammenarbeit/ror.html.

(2) Dito, S. 20.

(3) Dito, S. 24.

(4) dito, S. 39-40.

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