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Sozioökonomische Analyse der Berggebiete

Rezension

Anlass für diese Rezension ist die Publikation eines Berichtes der Beratungsfirma Wüest Partner (1) im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO vom 8. September 2021.

Die Analyse erstreckt sich über den Zeitraum 2010-2018 und bleibt insofern relevant und bemerkenswert, auch ein halbes Jahr nach deren Publikation, da solche Erhebungen auf Stufe Bund kein alltägliches Ereignis sind. Die Analyse ist vor allem deswegen wertvoll, da sie eine neue Typologie der Gemeinden entwickelt hat, die eine feinere Beurteilung der meist sehr heterogenen Berggebietsgemeinden aufweist. Auf dieser Basis lassen sich Tendenzen feststellen, Erkenntnisse gewinnen und idealerweise Massnahmen bzw. Gegenmassnahmen einleiten. Teilweise überholt ist hingegen die Analyse bezüglich der Wohnraumdynamik, da die Coronapandemie den Berggebieten ab Ende 2019 eine neue Lage beschert hat.  

Empfehlungen zur Problemlösung vieler Berggemeinden liefern die Autoren der Studie  allerdings nicht. Deshalb habe ich mich kurz selbst dazu geäussert. 

Diese Rezension fasst die wichtigsten Aussagen für ein breites Publikum zusammen. Für Amtsträger ist die vollständige Lektüre der Analyse, wenn nicht schon geschehen, wärmstens empfohlen. 

 

Was ist eine sozioökonomischen Analyse?

Sozioökonomische Analysen können eine gewisse Brisanz haben. Das Ziel von Wüest Partner ist in erster Linie nicht, eine sozioökonomische Studie durchzuführen, sondern die Berggebiete in neu erschaffene sozioökonomische Einheiten einzuteilen. Das heisse Eisen packt die Beratungsfirma allerdings nicht an. Das ist Sache der Gemeinden, allenfalls des Kantons. Doch sie liefert objektive Grundlagen für die Berggemeinden, damit diese wichtige Erkenntnisse gewinnen und vertiefen können. Und das ist schon, für Schweizer Verhältnisse, eine Errungenschaft. 

 

Gehen wir dem Begriff „sozioökonomisch“ auf den Grund. Die einzeln genommenen bestehenden Wörter „sozio“ (bzw. gesellschaftlich) und „ökonomisch“ (bzw. wirtschaftlich) sind nachvollziehbar. Doch was bedeuten sie zusammengenommen? Im Grunde will man damit herausfinden, ob ein direkter Zusammenhang oder ein kausaler Effekt zwischen einer bestimmten sozialen Gruppe (in diesem Fall die Bergbevölkerung) und ihrer wirtschaftlichen Leistung bzw. Lage besteht. Mit anderen Worten und damit es für alle klar ist: Eine sozioökonomische Studie über die Berggebiete müsste aufzeigen, wie und womit die Bergbevölkerung oder Teile davon wirtschaftet und mit welchem Erfolg bzw. Misserfolg. Die Brisanz dabei liegt in den Schlussfolgerungen, die einen kausalen Effekt zwischen z.B. Sprache, Altersstruktur oder Kultur und den wirtschaftlichen Erfolg bzw. Misserfolg aufdecken mögen. Viel mehr Akzeptanz für den Misserfolg haben hingegen geografische Faktoren, die als objektiv gelten, wie die Höhenlage oder die mangelnde verkehrstechnische Erschliessung. 

 

Eine umfassende sozioökonomische Studie über die Berggebiete beim BFS wird noch vermisst. Das BFS produziert zwar Excel-Tabellen zu allen möglichen Themen. Es hat auch die Broschüre „Regionale Disparitäten“ produziert, deren letzte Ausgabe von 2012 datiert und seitdem nicht mehr erschienen ist. Doch sie basiert auf den sieben Grossregionen und ist für die Berggebiete, die keine Grossregion, sondern zersplittert über die Bergkantone verteilt sind, kaum von Relevanz geschweige denn von Aussagekraft. Am nächsten zu einer sozioökonomischen Studie kommt regiosuisse, das ein Monitoring über die regionalwirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz publiziert und die Land-Stadt-Schere untersucht. Das letzte Monitoring datiert allerdings von 2016. (2)   

 

Doch eine seriöse und umfassende Analyse ist notwendig, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie kann unter Umständen Fragen aufwerfen, ja sogar gewisse „Sicherheiten“ über Bord werfen. Es liegt im Ermessen jeder Gemeinde, sich diesen Fragen zu stellen oder nicht. Doch erfahrungsgemäss rächt sich das Nichthandeln früher oder später. So fällt es immer mehr Gemeinden wie Schuppen von den Augen, dass sie nach 50 Bauboomjahren, über kein Bauland mehr verfügen, um Wohnraum für Einheimische zu schaffen. Was schliesslich der Entvölkerung noch zusätzlichen Vorschub leistet. 

 

 

Neue Einteilung von Gemeindetypen

Am 1. Januar 2020 weist die Schweiz gemäss BFS einen Gemeindestand von 2202 Gemeinden auf.  Auf Bundesebene und nach geografischem Gesichtspunkt teilt das BFS die Gemeinden in zwei Kategorien ein: Berggebiete und Nichtberggebiete. Insgesamt 811 Gemeinden gehören demnach zu den Berggebieten, was einem Anteil von 36,8 % entspricht. Die so definierten Berggebiete zählen 2,13 Mio. Einw. und 1,16 Mio. Beschäftigte (Voll- und Teilzeitstellen im Jahr 2018). 

 

Diese Struktur ist zu allgemein gefasst, um eine sozioökonomische Aussage für die Berggebiete zu erlauben. Auf Stufe Bund hat man deshalb bereits 3 verschiedene Gemeindetypen erarbeitet: 

 

  1. Arbeitsmarktregionen des BFS:  Das BFS hat die Schweiz im Jahr 2019 neu in 101 Arbeitsmarktregionen eingeteilt, die die früheren 106 MS-Regionen (MS = mobilité spatiale) ersetzt haben. Diese Aufteilung dient nur statistischen Zwecken und fügt sich den Anforderungen der EU, die nach möglichst homogenen Einheiten in der Anzahl Einwohner strebt. Dabei sind sowohl Berggemeinden als Nichtberggemeinden subsummiert. Das ist für die Berggebiete wieder keine brauchbare Grundlage. 
  2. Raumtypen von regiosuisse: regiosuisse ist verantwortlich für die Koordination der Neuen Regionalpolitik (NRP). Daher wird die Raumtypologisierung nur für Berggemeinden vorgenommen. Es sind derer vier: ländlichen Gemeinden, ländliche Zentren, periurbane Gemeinden und Städte. Sie kommt den Bedürfnissen der Berggebieten theoretisch am nächsten. 
  3. Avenir Suisse: Der liberal gesinnte Think Tank Avenir Suisse teilt  die Berggebiete in drei „Zentrumstäler“ ein: Im Westen der Schweiz das Rhonetal, im Zentrum die Gotthardachse und im Osten das Rheintal. Zudem werden die Zentrumstäler in Haupttal, Seitentäler und das gebirgige Hinterland unterteilt. In dem Moment, wo Avenir Suisse ihre Analyse ausschliesslich auf das Churer Rheintal fokussiert, ist sie für den Rest des Kantons unbrauchbar. Das habe ich schon in einem früheren Beitrag thematisiert. (3) 

 

Jede Typologie bringt Vor- und Nachteile. So hat Wüest Partner erkannt, dass die bestehenden Typologien für die Auswertung von Berggemeinden vielfach nicht geeignet sind. Was wiederum die Lagebeurteilung und die Problemlösung der Berggemeinden erschwert. 

 

Das könnte sich mit der neuen Einteilung der Beratungsfirma ändern. Demnach werden 6 Gemeindetypen in den Berggebieten ausgesondert: Tourismusgemeinden, klassische Berggemeinden, traditionelle Landgemeinden, diversifizierte Landgemeinden, periurbane Wachstumsgemeinden und urbane Wirtschaftsgemeinden. Eine selbstgemachte Einteilung für den Kanton Graubünden finden Sie am Ende dieses Beitrags. Die interaktive kartographische Darstellung von Wüest Partner für die ganze Schweiz ist auf Seite 22 des vorliegenden Berichtes oder unter folgendem Link aufrufbar:  https://www.wuestcloud.com/index.php/s/noCDlJrkaukgMI9/download.

 

Ein erster Überblick über die 811 Schweizer Gemeinden nach 34 Kriterien geordnet finden Sie auf Seite 31 des vorliegenden Berichtes: https://www.wuestpartner.com/uploads/sites/2/2021/12/Soziooekonomische_Analyse_Berggebiete_2021.pdf.

 

Und nun kommen wir zu den Erkenntnissen der Analyse.

 

 

 

Pendlerströme

Der Pendlersaldo ergibt sich aus folgender Formel: Zupendler  minus Wegpendler. Ein positiver Pendlersaldo heisst einerseits, dass es vor Ort relativ viele Arbeitsplätze gibt, was die Attraktivität des Standorts verdeutlicht. Andererseits kann es unter Umständen auch ein Hinweis darauf sein, dass eine Gemeinde als Arbeitsort attraktiver ist denn als Wohnort, was wiederum die Frage der Wohnraumverfügbarkeit und -Preis stellt. Die Analyse ergibt folgende Erkenntnisse: 

  • Für die Tourismusgemeinden resultiert ein positiver Pendlersaldo. Gleiches gilt für die urbanen Wirtschaftsgemeinden und die Gemeinden ausserhalb der Berggebiete.
  • Es pendeln deutlich mehr Erwerbstätige von einer klassischen Berggemeinde in eine Tourismusgemeinde (57 %) als umgekehrt (43 %).
  • 8,5 % der Erwerbstätigen, die in einer Tourismusgemeinde wohnen und 17,8 % der Erwerbstätigen, die in einer klassischen Berggemeinde wohnen, pendeln in eine urbane Wirtschaftsgemeinde. 

 

Umzugsanalyse

Die Analyse basiert auf 2’148’000 Umzügen aus den Jahren 2013 bis 2018, wobei Umzüge ins oder vom Ausland nicht berücksichtigt werde. Die Analyse liefert folgende Erkenntnisse: 

  • 68,4 % der Umzüge vollzogen sich zwischen zwei Gemeinden ausserhalb der Berggebiete. 
  • In 8,1 % der Fälle gab es einen Umzug von ausserhalb in die Berggebiete und bei 82 % der Fälle handelte es sich um einen Wegzug aus den Berggebieten. Genauer überstiegen die Wegzüge die Zuzüge um 2’000 Personen. 
  • Während in den periurbanen Wachstumsgemeinden die Bevölkerung durch Umzüge innerhalb der Schweiz jährlich um 1,0 % ansteigt, weisen die anderen Berggemeindetypen einen negativen Wanderungssaldo auf. So verlieren die Tourismusgemeinden 0,8 % und die klassischen Berggemeinden 0,6 % ihrer Bevölkerung pro Jahr an andere Gemeinden der Schweiz. 
  • Die Situation für Tourismusgemeinden ist besonders kritisch: Die Tourismusgemeinden weisen mit jedem anderen Gemeindetyp einen negativen Wanderungssaldo aus. Jeder dritte Wegzüger aus einer Tourismusgemeinde verlässt die Berggebiete. Bemerkenswert ist dieser Tatbestand auch deshalb, weil bei den klassischen Berggemeinden der Anteil derjenigen Wegzüger, die in Nichtberggebiete ziehen, mit 21,0 % bedeutend kleiner ist. 
  • Bei den traditionellen Landgemeinden führt jeder zweite Wegzug in eine ausserhalb der Berggebiete liegende Gemeinde.

 

Bevölkerungsentwicklung

  • Zur Bevölkerungsperspektive des Kantons Graubünden habe ich am 9. März 2022 einen ausführlichen Bericht geschrieben. (4) Wüest Partner macht allerdings keine bezifferten Aussagen über Bevölkerungsperspektiven, sondern hält sich an Entwicklungszahlen über die letzten 10 Jahre. Die Erkenntnisse aus dem Bericht sind uns daher wohl bekannt: 
  • Zwischen 2009 und 2019 wuchs die Schweizer Bevölkerung im Durchschnitt pro Jahr um 1,0 %. Dabei zeigt sich, dass die Gemeinden ausserhalb der Berggebiete mit einem jährlichen Wachstum von 1,1 % eine stärkere Bevölkerungszunahme verzeichnen als die Gemeinden in den Berggebieten (+ 0,7 %). 
  • Die Tourismusgemeinden, die klassischen  Berggemeinden und die traditionellen Landgemeinden verzeichnen ein negatives Bevölkerungswachstum (- 0,1 % bzw. -0,6 % bzw. -0,1 %). Am stärksten wuchsen die periurbanen Wirtschaftsgemeinden (+ 1,8 %). 

 

Beschäftigungsentwicklung

Als Grundlage dient die Erfassung der Vollzeitäquivalente in den STATENT-Daten des BFS für den Zeitraum von 2011 bis 2018. Auf Seite 51 des vorliegenden Berichtes finden die Gemeinden eine informative Tabelle: Beschäftigungsentwicklung nach Gemeindetyp und Branchengruppe:  https://www.wuestpartner.com/uploads/sites/2/2021/12/Soziooekonomische_Analyse_Berggebiete_2021.pdf. 

 

Die Analyse deckt Folgendes auf:

 

  • Die Ergebnisse nach Gemeindetyp zeigen, dass die Beschäftigung in der Schweiz in den Jahren von 2011 bis 2018 um durchschnittlich 1,0 % gestiegen ist. Das stärkste Beschäftigungswachstum pro Jahr verzeichnen die periurbanen Wachstumsgemeinden (+ 1,8 %) gefolgt von den urbanen Wirtschaftsgemeinden (+ 1,1 %), den diversifizierten Landgemeinden (+ 0,8 %) und den Tourismusgemeinden (+ 0,3 %). Rückläufig ist die Beschäftigung in den traditionellen Landgemeinden (- 0,5 %) und den klassischen Berggemeinden (- 0,1 %). 
  • Aufschlussreich sind zwei Aussagen der Autoren des Berichtes über die Wertschöpfung der Baubranche und derTourismusbranche, die in den Berggemeinden zwischen 35 und 50 % der Arbeitnehmer beschäftigen. Zum einen leistet die Baubranche einen wesentlichen Beitrag zum Beschäftigungswachstum in den traditionellen Landgemeinden und in den periurbanen Wachstumsgemeinden, während sie in den Tourismusgemeinden und in den klassischen Berggemeinden rückläufig ist. Die Analyse der einzelnen Branchengruppen zeigt jedoch, dass in den klassischen Berggemeinden das Bauwesen im Verhältnis zur Gesamtbeschäftigung am meisten Stellen verlor. Ein Negativwachstum wies auch die Tourismusbranche aus, zu der das Gastgewerbe gehört, sowie der Detailhandel und der Primärsektor. 
  • Zum anderen hat Wüest Partner zusätzlich zur Beschäftigungsentwicklung die Wertschöpfung pro Branchengruppe ausgewertet. Zu den Branchengruppen, die eine unterdurchschnittliche Bruttowertschöpfung pro Vollzeitäquivalent ausweisen, gehören der Primärsektor (CHF 49’000), der Tourismus (CHF 67’000) und das Baugewerbe (CH 103’000). (5)  

 

Tourismusgemeinden: Wechselwirkung zwischen Bevölkerung und Beschäftigung

Für jede Gemeinde und für eine Berggemeinde im Besonderen stellt sich die Frage, ob ein direkter Zusammenhang besteht zwischen der Entwicklung der Bevölkerung und der Entwicklung der Beschäftigung. Denn die Antwort darauf bestimmt ein Stück weit, ob sich eine Investition in die Gemeindeinfrastruktur „lohnt“ oder nicht.  

 

  • Die Ergebnisse zeigen, dass 65,1 % aller Gemeinden der Schweiz beim Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum das gleiche Vorzeichen aufweisen. Leider lässt sich in den klassischen Berggemeinden kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum ableiten. 
  • In den Tourismusgemeinden schrumpfte die Bevölkerung in den letzten Jahre in 59,3 % der Gemeinden. Bei den Gemeinden mit wachsender Bevölkerung überwiegen diejenigen Gemeinden, die gleichzeitig ein Beschäftigungswachstum aufweisen deutlich. Diese Ergebnisse deuten somit darauf hin, dass ein Beschäftigungswachstum in vielen Tourismusgemeinden eine Voraussetzung ist, dass deren Einwohnerzahl steigt. 
  • Jedoch führt eine positive Beschäftigungsentwicklung nicht bei allen Tourismusgemeinden zu einem Bevölkerungswachstum. So gibt es zahlreiche Tourismusgemeinden, die trotz eines Beschäftigungswachstums einen Bevölkerungsrückgang verzeichnen. Ein wichtiger Grund könnte darin bestehen, so Wüest Partner, dass die Beschäftigung im Tourismussektor saisonal geprägt ist oder dass die Wohnkosten zu hoch sind. 

 

Infrastruktur und Zentralität

Die Autoren der Studie berechnen für jede Gemeinde der Schweiz ein Rating bezüglich Infrastruktur und Zentralität. Das Gesamtrating reicht von 5.0 (höchster Wert) bis 1.0 (tiefster Wert). Die Analyse ergibt folgende Erkenntnisse: 

 

  • 205 der 811 Gemeinden in den Berggebieten erreichen Ratingwerte von mindestens 3.0 und verfügen damit, auch in schweizweitem Vergleich, über eine überdurchschnittliche Infrastruktur. Zudem üben 33 Tourismusgemeinden eine wichtige Zentrumsfunktion aus, bei den klassischen Berggemeinden sind es 14. 
  • Mit einem Wert von 4.1 verfügen die urbanen Wirtschaftsgemeinden über den höchsten Mittelwert der Berggebietsgemeinden. Ihr Mittelwert liegt sogar noch über dem Wert von 3,8 der für die Gemeinden ausserhalb der Berggebiete resultiert. Die Berggebiete als Ganzes erreichen einen Wert von 3,5 und liegen damit leicht unter dem Wert, den die Gemeinden ausserhalb der Berggebiete als Ganzes erreichen. Knapp über 3,5 liegt auch der Wert, auf den die Tourismusgemeinden kommen. 
  • Da die Bevölkerungsentwicklung in der Vergangenheit stattgefunden hat und das Rating „Infrastruktur und Zentralität“ den aktuellen Stand darstellt, ist jeder Vergleich zeitlich verzerrt. Es kann also nicht mit Bestimmtheit schlussgefolgert werden, dass eine umfassende Infrastruktur genügt, um ein positives Bevölkerungswachstum zu erreichen. Hingegen ist es durchaus möglich, dass eine positive Entwicklung der Einwohnerzahlen dazu führt, dass die Infrastruktur einer Gemeinde ausgebaut wird. 

 

Bildungsmobilität

Zur Untersuchung der Bildungsmobilität wurde der Werdegang von einer Anzahl Personen analysiert, die in Berggebieten geboren sind oder jetzt wieder dort wohnen, dazwischen aber ein Studium im Mittelland absolviert haben. Basis ist die Strukturerhebung des BFS. 

 

  • Gemäss den analysierten Daten wird die These bestätigt, dass die Wanderungsbilanz zwischen den Berggebieten und den Nichtberggebieten negativer ausfällt bei Personen mit einem Universitätsabschluss als bei Personen ohne Universitätsabschluss. Es bestätigt sich, dass die Bildungsmobilität einen prägenden Einfluss auf die Anzahl Akademiker in den Berggebieten hat. Dennoch kann nicht gesagt werden, so die Autoren der Studie, dass der Wegzug von Akademikern die sozioökonomische Entwicklung der Berggebiete als Ganzes deutlich prägt: Einerseits fällt die Wanderungsbilanz der Akademiker nur leicht negativ aus; andererseits ist der Anteil an Akademikern in den Berggebieten generell relativ tief. 

Zur näheren Betrachtung der Analyse sind im Folgenden drei spezifische Fragen mit Antworten formuliert.

  • Frage 1: Kehrt die Mehrheit nach dem Universitätsstudium wieder in die Berggebiete zurück? Ja, insgesamt sind 56 % der Personen, die in den Berggebieten geboren sind und im Mittelland studiert haben, inzwischen wieder zurückgekehrt, während 44 % im Mittelland geblieben sind. Auch wenn der Anteil der Rückkehrer überwiegt, so geht den Berggebieten dennoch fast die Hälfte der Universitätsabgänger verloren. In den alpinen Berggebieten (Tourismusgemeinen“ und „klassische Berggemeinden“ liegt der Anteil der Rückkehrer unter den Akademikern mit 39 % deutlich unter dem Durchschnitt der gesamte Berggebiete (56 %). 
  • Frage 2: Was bedeutet die Bildungsdynamik für die Sozioökonomie? Auf die sozioökonomische Zusammensetzung der gesamten Bevölkerung hat die Bildungsmobilität wenig Einfluss, da der Anteil der Universitätsabgänger generell tief ist. Die Bildungsmobilität verschärft aber beim Bevölkerungsanteil mit Universitätsabschluss die Ungleichheit zwischen dem Berggebieten und dem Mittelland. Zudem ist der Anteil der Akademiker in den Berggebieten tiefer als im Mittelland und diese Differenz wird durch die Bildungsdynamik verschärft. 
  • Frage 3: In welcher Funktion arbeiten die Menschen, die in den Berggebieten geboren sind? Menschen, die in den Berggebieten geboren sind und ins Mittelland gezogen sind, besetzen im Durchschnitt höhere Funktionen und arbeiten in grösseren Unternehmen als diejenigen, die nach dem Studium in die Berggebiete zurückkehren. Zudem besetzen diejenigen Personen, die in Berggebieten geboren sind, ihr ganzes Leben in der Berggebieten verbracht haben und kein Universitätsstudium besitzen, weniger hohe Funktionen als diejenigen, die weggezogen und wieder zurückgekehrt sind. Erstere arbeiten also auf deutlich niedrigeren Hierarchiestufen als Rückkehrer. 

 

Wohnraumdynamik

Für die Wohnraumanalyse wie für die übrigen Analysen basiert Wüest Partner auf Zahlen zwischen 2010 und 2018. Das bedeutet, dass die Erkenntnisse der Coronapandemie in die Studie nicht eingeflossen sind. Einige Konstanten mögen sich in den Berggemeinden seitdem behauptet haben wie z.B. die Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklung oder die niedrigere Dynamik von Umbau und Neubau. Doch die Pandemie und die gesteigerte Nachfrage nach  Zweitwohnungen zu Homeoffice-Zwecken insbesondere in Tourismusgemeinden haben die Verfügbarkeit von Wohnraum und zahlbaren Kosten markant reduziert. 

 

Aus diesem Grund ist die Analyse zur Wohnraumdynamik weitgehend überholt und müsste, gestützt auf den neuen Gegebenheiten, neu in Angriff genommen werden, zumal Wohnraumdynamik ein entscheidender Faktor der Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftswachstum darstellt. 

 

Fazit und Kommentar

  • Pendlerströme: Der Pendlerstrom von den Berggebieten ins Mittelland betrachtet Wüest Partner, angesichts der unter Umständen zurückzuliegenden Distanzen, als sehr hoch. Ich stimme dem zu. Einen Teil der PendlerInnen für die Berggebiete zurückzugewinnen, wäre ein ehrgeiziges Ziel, vorausgesetzt, einige Gemeinden in den Berggebieten können eine ebenbürtige alternative Beschäftigung bieten. 
  • Umzugsanalyse: Die Zahlen suggerieren, dass Menschen aus Tourismusgemeinden häufiger aus den Berggebieten wegziehen als Menschen, die klassische Berggemeinden verlassen. Mit 400 Personen pro Jahr betrachtet Wüest Partner den Netto-Bevölkerungsverlust der Berggebietsgemeinden als nicht sehr gross. Ich stimme dem nicht zu. Der Bevölkerungsverlust ist gross und der Trend reisst gemäss Prognosen in den nächsten 30 Jahren nicht ab. Hier soll der Hebel angesetzt werden, dass die Berggemeinden im Allgemeinen zum Wohnen und Arbeiten wieder attraktiv gemacht werden. Die Schweiz ist zu klein, zu dicht besiedelt, als dass die Berggebiete, die zwei Drittel der Fläche ausmachen, nur noch als Ferienorte und als Naturreservate genutzt werden. 
  • Beschäftigungsentwicklung: Der Primärsektor, die  Baubranche und die Tourismusbranche sind zwar wichtige Stütze der Wirtschaft in Berggebieten, doch ihre Wertschöpfung ist laut Wüest Partner unterdurchschnittlich. Es liegt aber im Interesse der Gemeinden, möglichst viele Steuerzahler im mittleren und oberen Segment anzuziehen. Daher sollte eine Ergänzung des Beschäftigungsangebots im Dienstleistungssektor oder in der Forschung angepeilt werden.  
  • Infrastruktur und Zentralität: Die zum Teile hohen Ratingwerte der Berggemeinden lassen sich durch zwei Faktoren erklären: Einerseits nimmt eine durch mangelnde verkehrstechnische Erschliessung gezeichnete Gemeinde hohe Kosten für ihre Infrastruktur in Kauf. Andererseits zwingt der Tourismus geradezu, eine grössere Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Bleibt der Tourismusstrom weg oder wandert die Bevölkerung ab, besteht Gefahr, dass die Infrastruktur ganz oder teilweise abgebaut wird. Damit beginnt ein Teufelskreis. 
  • Bildungsmobilität: Die Analyse ergibt, dass circa die Hälfte der Wegzüger mit Universitätsdiplom in die Berggebiete zurückkehrt. Das ist eine gute Überraschung, dennoch geht die andere Hälfte „verloren“. Auffällig ist auch das Durchschnittsalter der Heimkehrer mit Universitätsdiplom, nämlich 42,7 Jahre, während das Durchschnittsalter der Wegzüger mit Universitätsdiplom noch höher ist, nämlich 45,9 Jahre. Diese Zahlen scheinen mir aussergewöhnlich hoch. Ich wiederhole mich gern: Auf 26 Kantone kommen derzeit 10 Universitäten. Für den einzigen dreisprachigen Kanton, Graubünden, dessen kleinste Sprache, das Romanische, vom Aussterben bedroht ist, wäre eine solche Institution kein Luxus, sondern ein Muss. 
  • Wohnraumdynamik: Eine positive Entwicklung der Raumnutzung in den Berggebieten stösst an mehreren Fronten gleichzeitig an: z.B. an divergierenden Interessen zwischen Erst- und Zweitheimischen, an den gesetzlichen Vorgaben des Raumplanungsgesetzes und an sturen Zuteilungsprozessen, die sich hinter dem Föderalismus verstecken. So wird in Bern den Kantonen nur soviel zusätzliche Bauzonen im Verhältnis zum Bevölkerungswachstum gewährt. Unter diesen Umständen hat ein Kanton, dessen Bevölkerung schwindet, keine Chance, den Trend umzukehren. Die Spirale zeigt nur noch in eine Richtung: abwärts. In Bern hat man offensichtlich noch nicht begriffen, dass in Graubünden in manchen Bereichen negative Dynamiken herrschen - Entvölkerung, spezifische Wohnraumübernutzung, zunehmend Ökologisierung des Geländes -, die man jetzt stoppen muss, wenn man derart wertvolles Gelände nicht verlieren will. 

Für viele Amtsträger mag die Analyse von Wüest Partner nichts Neues bringen, weil sie schon alles ausprobiert haben - mit mehr oder weniger Erfolg. Ich habe Verständnis dafür, zumal der Handlungsspielraum auf Gemeindestufe besonders klein ist. Ich finde jedoch, dass das Thema Entvölkerung zu wenig präsent ist in der Politik und in Wahl- und Stimmzeiten wie jetzt offenbar auch. 

 

Virginia Bischof Knutti©27.04.2022

 

Quellen und Anmerkungen:

 

  1. Wüest Partner AG, „Berggebiete: sozioökonomische Analyse“, https://www.wuestpartner.com/uploads/sites/2/2021/12/Soziooekonomische_Analyse_Berggebiete_2021.pdf
  2. Regiosuisse, Die regionalwirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz, Monitoringbericht 2016, https://regiosuisse.ch/sites/default/files/2018-04/Monitoringbericht2016D.pdf.
  3. Siehe meinen Beitrag „Avenir Suisse ist das Ende Graubündens“ vom 15.02.2020 (Anm. der Autorin), https://virginiabischofknutti.jimdofree.com/2020/07/15/avenir-suisse-ist-das-ende-graubündens/.
  4. Siehe meinen Beitrag „Bevölkerungsperspektive Graubündens 2020-2050, Wer stoppt die Abwärtsspirale?“ vom 09.03.2022 (Anm. der Autorin), https://virginiabischofknutti.jimdofree.com/2022/03/09/bevölkerungsperspektive-graubündens-2020-2050/.
  5. Für die nach Sektoren oder Wirtschaftsbranchen differenzierte Arbeitsproduktivität kommt in der Schweiz ein Mass der Bruttowertschöpfung (BWS) pro Vollzeitäquivalent (VZÄ) zum Einsatz. Eine vergleichende Tabelle finden Sie auf Seite 10 des Berichtes „Analyse der Arbeitsproduktivität im Dienstleistungssektor 1997-2014 vom BFS, (Anm. der Autorin), https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/aktivitaeten/oekonomische-produktion/arbeitsproduktivitaet.assetdetail.1220118.html.

Karte: Räumliche Verteilung der 6 Gemeindetypen auf die Berggebiete

Quelle: Wüest Partner AG

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