Wer stoppt die Abwärtsspirale?
In meinem letzen Blog-Beitrag vom 23. Februar 2022 „Val Müstair - Allein und abgehängt an der Peripherie der Peripherie“ habe ich unter anderem von der Entvölkerung von Val Müstair berichtet. Ich habe auch angetönt, dass Val Müstair nicht allein in dieser Situation ist und dass die Bevölkerungsperspektive der Nachbargemeinde Zernez ähnlich aussieht wie diejenige von Val Müstair.
Die Vorstellungen, die von der Entvölkerung eines mehr oder weniger grossen Gebiets ausgehen, sind meist negativ, da sie objektiv und subjektiv mit Verlust gleichgesetzt werden.
Besorgniserregend in der Schweiz ist die Entvölkerung des ländlichen Raums, die nach und nach zum Verschwinden wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Aktivitäten in den Dörfern führt. Die Entvölkerung von Berggebieten scheint man hingegen gelassener zu nehmen. Vielleicht weil sie nicht als Verarmung wahrgenommen wird, wenn man die schönen, renovierten Bündner Bauernhäuser von aussen betrachtet.
Mit dieser Analyse möchte ich die Bevölkerungsperspektive der Regionen und Gemeinden Graubündens untersuchen und kartografisch darstellen.
Bevölkerungsrückgang oder Entvölkerung?
Ich beginne mit einer Begrifflichkeit: Was ist der Unterschied zwischen Bevölkerungsrückgang und Entvölkerung?
Bevölkerungsrückgang ist ein Zustand, bei dem die Zunahme der Bevölkerung durch Geburtenrate und Zuwanderung kleiner ist als die Abnahme durch Sterberate und Abwanderung.
Entvölkerung hingegen ist ein Prozess, bei dem sich der Bevölkerungsbestand stark reduziert und das Aussterben ganzer Landstriche, Siedlungen oder Städte zur Folge hat. Ursache dafür war in vergangenen Jahrhunderten eine Epidemie bzw. Pandemie, Krieg oder Hungersnot. Heute sind die häufigsten Ursachen in den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen oder nach Naturkatastrophen zu finden.
In Graubünden haben wir mit einer Entvölkerung zu tun, die die Infrastruktur aus mangelnder Rentabilität schwinden lässt (Schule, Post, Lädeli, Café usw.), während sie renovierte historisch kostbare Bauernhäuser entstehen lässt, die gelegentlich zu Ferienzwecken bewohnt werden.
Mit anderen Worten: Die ständige Bevölkerung wird aus mangelnder Wirtschaftsperspektive „vertrieben“. An ihre Stelle tritt eine neue Form von Siedlung mit einer Bevölkerungsschicht, die die lebenswichtige Infrastruktur zwar nicht zwingend braucht, es aber schätzt, temporär in einer Postkartenidylle zu verweilen und eine möglichst intakte Natur um sich zu haben.
Die Frage ist: Wird sich diese Tendenz in Zukunft noch verstärken? Eine mögliche Antwort liefert die kantonale Analyse der Bevölkerungsperspektive 2020-2050.
Bevölkerungsperspektive Regionen Graubünden 2020-2050 - Szenario Mittel
Karte 1: Bevölkerungsperspektive Regionen GR 2020-2050 in % - Szenario Mittel
Quelle: Wikipedia Commons, Ergänzungen durch die Autorin
Nach dem Szenario Mittel wächst die Bevölkerung des Kantons Graubünden insgesamt um + 4,0 %. (1)
Nimmt man die Einzelnen Regionen unter die Lupe, stellt man fest, dass nur zwei Regionen eine Wachstumsperspektive haben: Imboden (+ 15 %) und Landquart (+13,4 %). Sie profitieren weiterhin von ihrer günstigen Verkehrslage im und um das Churer Rheintal und dem Zugang zum Grossraum Zürich-Bodensee.
Bemerkenswert ist jedoch, dass bisher dynamische Regionen wie Plessur, Moesa und Viamala sich künftig negativ entwickeln. Hier wäre eine fundierte Ursachenanalyse vonnöten.
Obwohl Bevölkerungsperspektiven in der Regel drei Szenarien aufweisen (Mittel, Hoch und Tief) (2), fokussieren Behörden und Medien meistens auf das Szenario Mittel. Es ist aber auch nicht überflüssig zu erfahren, wie die Szenarien Hoch und Tief aussehen, denn sie geben Auskunft darüber, wie sich die Lage im besten bzw. im schlimmsten Fall entwickeln könnte.
Bevölkerungsperspektive Regionen Graubünden 2020-2050 - Szenario Hoch
Karte 2: Bevölkerungsperspektive Regionen Graubünden 2020-2050 in % - Szenario Hoch
Quelle: Wikipedia Commons, Ergänzungen durch die Autorin
Nach dem Szenario Hoch wächst die Bevölkerung des Kantons Graubünden insgesamt um + 5,8 %. Doch nicht alle Regionen werden wachsen. (3)
Von 11 Regionen verzeichnen 5 einen Bevölkerungswachstum: Imboden (+ 28,5 %), Landquart (+ 21,0 %), Davos-Prättigau (+13,9 %), Plessur (+ 8,0 %) und Viamala (+ 6,0 %).
Auffällig ist, dass der höchste Bevölkerungsrückgang die Region Engiadina Bassa Val Müstair (- 16,8 %) verzeichnet.
Bevölkerungsperspektive Regionen Graubünden 2020-2050 - Szenario Tief
Karte 3: Bevölkerungsperspektive Regionen Graubünden 2020-2050 in % - Szenario Tief
Quelle: Wikipedia Commons, Ergänzungen durch die Autorin
Nach dem Szenario Tief verzeichnet der Kanton Graubünden einen Bevölkerungsrückgang von insgesamt -13,3 %. (4)
Behaupten können sich nur noch zwei Regionen: Imboden (+ 5,7 %) und Landquart (+ 1,7 %). Selbst die dynamische Region Plessur verzeichnet einen markanten Bevölkerungsrückgang (-5,2 %).
Der stärkste Rückgang verzeichnet die Region Engiadina Bassa Val Müstair (- 30,8 %).
Auffällig ist jedoch der ausgeprägte Bevölkerungsrückgang der übrigen 9 Regionen, nach dem Muster: Je weiter entfernt die Nord-Süd-Achse A13 liegt, desto höher der Bevölkerungsrückgang.
Nun drängt sich die Frage auf, ob diese global negative Entwicklung eine „Bündner Spezialität“ darstellt oder ob sie auch bei anderen Kantonen anzutreffen ist. Da ein Vergleich mit Kantonen aus dem Unterland nicht zielführend ist, fokussieren wir auf die Gebirgskantone gemäss Regierungskonferenz der Gebirgskantone (RKGK) (5).
Bevölkerungsperspektive Kantone 2020-2050 - Szenario Mittel
Karte 4: Bevölkerungsperspektive Kantone 2050 in % - Szenario Mittel
Quelle: Wikipedia Commons, Ergänzungen durch die Autorin
Von der Entwicklung der Schweizer Kantone gemäss Mittlerem Szenario (6) kann man drei Erkenntnisse festhalten:
- Das schweizweite Durchschnittswachstum liegt bei + 10,1 %. 11 Kantone liegen darüber, 15 darunter. Spitzenreiter ist der Kanton Genf (+ 30,2 %).
- Alle Kantone wachsen mit Ausnahme der Kantone Tessin (-5,1 %) und Graubünden (-4,0 %), zwei starke Tourismuskantone.
- Die anderen sechs Gebirgskantone bzw. Halbkantone zeichnen sich durch eine positive Bevölkerungsperspektive aus. Spitzenreiter ist der Kanton Appenzell-Innerrhoden (+20,8 %), doch auch Wallis, trotz der hohen und peripheren Lage verzeichnet ein verhältnismässig starkes Wachstum (+ 14,5 %).
Hier drängt sich eine fundierte Vergleichsanalyse zwischen den Kantonen Graubünden und Wallis auf. Was ist ausschlaggebend, dass die Walliser Bevölkerungsperspektiven dermassen positiver sind als diejenigen, die Graubünden vorschweben?
Schliesslich möchte ich auf der Gemeindeebene auf die jeweiligen Top-10 bzw. und Down-10 kurz eingehen, damit wir uns ein erstes Bild machen können, wie Gemeinden konkret betroffen sind.
Zwei gegensätzliche Trends in der Bevölkerungsentwicklung der Bündner Gemeinden
Wir fangen mit den Gemeinden an, die die grösste Perspektive für Bevölkerungszuwachs aufweisen. Ich habe die zwei folgenden Tabellen mit der Angabe des durchschnittlichen Steuereinkommens der Raiffeisen Bank ergänzt, um eine Aussage über die wirtschaftlichen Verhältnisse machen zu können.
Tabelle 1: Die 10 Gemeinden mit dem grössten Bevölkerungswachstum 2020-2050 in % - Szenario Mittel
Gemeinde | Region | Wachstum in % | durchschn. steuerbares Einkommen |
Bonaduz | Imboden | 39,5 | 58'000 |
Maienfeld | Landquart | 38,2 | 70'000 |
Domat/Ems | Imboden | 25,1 | 53'000 |
Madulain | Maloja | 24,1 | 36'000 |
Zizers | Landquart | 19,8 | 57'000 |
Thusis | Viamala | 19,3 | 46'000 |
Grüsch | Davos-Prättigau | 18,4 | 53'000 |
Rongellen | Viamala | 16,6 | 43'000 |
Landquart | Landquart | 14,7 | 52'000 |
Schiers | Davos-Prättigau | 13,4 | 48'000 |
Durchschnitt | 51'600 |
Quelle: Amt für Raumentwicklung Graubünden und Raiffeisen Bank
Auffällig ist, dass mit Ausnahme von Madulain (211 Einw.) und Rongellen (54 Einw.) die anderen Gemeinden zu den ohnehin bevölkerungsreicheren Gemeinden des Kantons (< 3’000 Einw.) gehören.
Von den traditionell bevölkerungsstärksten Gemeinden des Kantons (Chur, Davos und St. Moritz) wächst nur noch Chur weiter (+ 2,6 %), während Davos und St. Moritz in eine Abwärtsspirale rutschen und überdurchschnittlich an Bevölkerung verlieren (- 26,3 % bzw. - 19,6 %). Auch hier drängt sich eine fundierte Analyse der Ursachen für diese Entwicklung.
Wie sieht das Bild auf der Gemeinden, die am meisten Bevölkerung verlieren?
Tabelle 2: Die 10 Gemeinden mit dem grössten Bevölkerungsrückgang 2020-2050 in % - Szenario Mittel
Gemeinde | Region | Rückgang in % | durchschn. steuerbares Einkommen |
Calanca | Moesa | -48,7 | nicht vorhanden |
Avers | Viamala | -43,0 | 37'000 |
Santa Maria in Calanca | Moesa | -42,2 | 59'000 |
Sumvitg | Surselva | -41,5 | 40'000 |
Lohn (GR) | Viamala | -40,9 | 38'000 |
Medel (Lucmagn) | Surselva | -40,8 | 40'000 |
Lumnezia | Surselva | -39,1 | 40'000 |
Sufers | Viamala | -39,0 | 53'000 |
Tschiertschen-Praden | Plessur | -38,9 | 37'000 |
Mathon | Viamala | -38,0 | 38'000 |
Durchschnitt | 42'444 |
Quelle: Amt für Raumentwicklung Graubünden und Raiffeisen Bank
Diese 10 Gemeinden gehören ohnehin schon zu den bevölkerungsärmsten des Kantons. Die kleinste, Lohn (GR) hatte 2020 geradezu 44 Einw., während die grösste, Lumnezia, 1990 Einw. zählte.
Wenn man das durchschnittliche steuerbares Einkommen der Top-10 und Down-10 Gemeinden vergleicht, stellt man ohne Überraschung fest, dass das durchschnittliche steuerbare Einkommen der Top-10 Gemeinden um Sfr. 9’156.— (oder 21,5 %) höher liegt. Das lässt horchen.
Man könnte die Analyse auch erweitern, indem man die Hauptsprache der Gemeinden dazu nimmt. Und man stellt ohne Mühe fest, dass die Top-10 Gemeinden in der Mehrheit deutschsprachig sind, während die Down-10 Gemeinden rund zur Hälfte Walser Gemeinden und zur Hälfte italienisch- und romanischsprachig sind. Um Näheres zu erfahren, bräuchte es hier auch eine fundierte Studie über regional-sozioökonomische Disparitäten.
Fazit und Schlussfolgerung
Von der momentan äusserst angespannten internationalen Lage abgesehen ist Entvölkerung das Problem Nr. 1 Graubündens. Wenn es nicht gelöst wird, werden alle anderen sekundär.
Wir müssen erkennen, dass auch wenn die Ausreise von Tausenden von Bündnerinnen und Bündnern über die Jahrzehnte freiwillig erfolgt ist, ist sie immer noch das Ergebnis schwieriger, zumeist wirtschaftlicher Lebensbedingungen.
Statistiken gibt es in der Schweiz wie Sand am Meer. Aber werden auch die Statistiken, die wir wirklich brauchen, gemacht? Bei aller Fülle an vorhandenen Statistiken, was fehlt, sind Stellungnahmen und Beurteilungen der Behörden. Es fehlt vor allem auch an sichtbaren Massnahmen, die darauf abzielen würden, die Entwicklung des verhältnismässig kleinen und dicht besiedelten Schweizer Territoriums einigermassen ins Gleichgewicht zu bringen - auch wenn es historisch gesehen ein derartiges Gleichgewicht noch nie gab.
Armut ist in der Schweiz selten sichtbar. Verlassene Bündner Dörfer sehen - mit wenigen Ausnahmen - noch immer malerisch aus und erwecken Sehnsucht nach einem einfachen Leben in und mit der Natur. Der Mythos des Schweizer Hirten ist noch immer in der Schweizer Bevölkerung tief verwurzelt. Dass viele Bündner Dörfer und Gemeinden bei aller Schönheit und Romantik finanziell verarmen, wird übersehen.
Sollte sich bewahrheiten, dass die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse mehrheitlich spezifische Gesellschaftsgruppen (Sprache, Klassen) treffen, dann hat Graubünden ein Problem mehr.
Virginia Bischof Knutti©09.03.2022
Quellen und Anmerkungen:
- Karten 1 bis 4: Kartengrundlage von Wikipedia Commons mit Ergänzungen der Autorin
- Tabelle 1 und 2: Amt für Raumentwicklung Graubünden (ARE), https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dvs/are/dienstleistungen/grundlagen/Seiten/Bevoelkerungsperspektive2030.aspx und Raiffeisen Bank, Gemeindeinfos in Zahlen und Statistiken, https://www.raiffeisen.ch/rch/de/privatkunden/hypotheken/hypopedia/municipality-factsheet.html.
- Amt für Raumentwicklung Graubünden (ARE), https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dvs/are/dienstleistungen/grundlagen/Seiten/Bevoelkerungsperspektive2030.aspx, gesichtet am 10.03.2022.
- Laut Bundesamt für Statistik BFS schreibt das Referenzszenario (oder Szenario Mittel) die Entwicklungen der letzten Jahre fort. Das «hohe» Szenario beruht auf einer Kombination von Hypothesen, die ein stärkeres Bevölkerungswachstum zur Folge hätten, während das «tiefe» Szenario Hypothesen kombiniert, mit denen das Bevölkerungswachstum geringer ausfällt (Anm. der Autorin).
- Amt für Raumentwicklung Graubünden (ARE), https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dvs/are/dienstleistungen/grundlagen/Seiten/Bevoelkerungsperspektive2030.aspx, gesichtet am 10.03.2022.
- Amt für Raumentwicklung Graubünden (ARE), https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dvs/are/dienstleistungen/grundlagen/Seiten/Bevoelkerungsperspektive2030.aspx.
- Mitglieder der Regierungskonferenz der Gebirgskantone: Uri, Nidwalden, Obwalden, Glarus, Graubünden, Tessin und Wallis (Anm. der Autorin).
- Bundesamt für Statistik BFS, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/zukuenftige-entwicklung/kantonale-szenarien.html, gesichtet am 10.03.2022.
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