· 

Kann sich der Kapitalismus noch steigern?

Eine Antwort aus dem Archipel der britischen Inseln

Anlass zu diesem Kommentar ist ein Artikel erschienen in Le Monde diplomatique von Januar 2021: „L’ère de la finance autoritaire.“

Die Autoren schildern, welche Akteure  die Brexit-Kampagne finanziert haben und welche Ziele sie offenkundig verfolgen: die Errichtung einer neuen Stufe des Kapitalismus, die oberhalb des Neoliberalismus steht, des Libertarismus.

Undenkbar, sollte man meinen, schon aufgrund der sozialwirtschaftlichen Folgen der  Coronakrise, die nach Staatsunterstützung verlangen. Doch es fehlt auch nicht an Argumenten, die gerade wegen der Folgen von Corona, den libertären Ansatz preisen. 

In der Einleitung schildere ich die geopolitische Insellage Grossbritanniens und vergleiche sie mit der Einschlusslage der Schweiz. Die Gemeinsamkeiten sind grösser als man allgemein denken mag. Daher könnte der Libertarismus auch hierzulande ohne Mühe Gehör finden.

Der rezensierte Artikel ist auch in der deutschen Ausgabe des Monde diplomatique zu lesen mit dem Titel: „Sponsoren des Brexit.“

 

Die Insellage ist ein geopolitischer Vorteil 

Eine Insel ist ein von Wasser umgebenes Gebiet. Von einer Insellage spricht man, wenn sich ein Staat ganz oder teilweise aus einer oder mehreren Inseln zusammensetzt. 

Während die Einschliessung im Extremfall der Isolation auf dem Land gleichkommt, ist die Insellage eine Isolation auf dem Meer. Die Insellage ist daher symmetrisch zum Einschluss. Daher ist ein Vergleich zwischen Grossbritannien und der Schweiz in mancher Hinsicht hilf- und leerreich. 

Als Erstes lässt sich feststellen, dass während der Einschluss auf dem Land meist als geopolitischer Nachteil empfunden wird, die Insellage hingegen als Stärke ausgelegt wird. Tatsächlich, dass Grossbritannien seit Wilhelm dem Eroberer keine Invasion mehr erlebt hat, verdankt es seiner Insellage. Denn das Meer ist eine sichere Grenze. Gleichzeitig konnte es eine Inselbasis bauen aus der England seine Weltherrschaft über die Meere entwicklen konnte, nachdem es seine Rivalen Spanien, Holland und Deutschland besiegt hatte.  

Zweitens ist hervorzuheben, dass England nie ohne Verbündete war. Denn durch die Beherrschung der Seewege hatte es keine Schwierigkeiten, in den Kriegen, die es führte, übereinstimmende Interessen zu vereinen. Die Nationen, die von den Übersee-Handelsflotten abhängig waren, mussten ihre Politik an die Englands, der Beschützerin der Meere, anlehnen. 

Drittens, die Insellage begünstigt auch ein Gefühl der Ausnahme, analog zum Sonderfall Schweiz. Von der Politik der „spendid isolation“ über die Originalität seines Engagements für die europäische Konstruktion, insbesondere seinen Willen, die Übersee nicht zugunsten eines kontinentalen Bündnisses zu vernachlässigen, hat Grossbritannien schon immer ein ständiges Bestreben an den Tag gelegt, eine souveräne und originelle Politik zu verfolgen. 

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Insellage nährt den Willen zur Unabhängigkeit und zum eigenen Weg. Verbunden mit einer angemessenen  Verteidigung (GB ist eine Atommacht und ein wichtiges NATO-Mitglied) und einer starken Wirtschaft (dem Finanzplatz London), ist es ständig auf der Suche nach neuen Ideen und neuen Märkten, im Idealfall mit Inselstaaten wie Singapur, Hongkong oder Japan, um sich als Mittelmacht zu behaupten. 

So hat in ultraliberalen Kreisen, lange vor dem Brexit die Idee gereift, die finanzstarke Metropole London in ein Singapore-on-Thames umzuwandeln. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Ultraliberalen Ökonomen und mächtige Wirtschaftsakteuren schwebt der höchste Stand des Kapitalismus, der Liberatarismus, vor. 

Doch ist es überhaupt noch denkbar, liberaler zu sein, als Grossbritanien es heute ohnehin schon ist? Und dies obwohl die Coronakrise die Nachteile des entfesselten Kapitalismus für die Allgemeinheit hervorgehoben hat? Doch, allerdings! 

 

Der Libertarismus, neuer höchster Stand des Kapitalismus 

In ihrem Artikel „L’ère de la finance autoritaire“ (1), erschienen im Januar 2021 in Le Monde diplomatique, erläutern zwei Autoren, wie der höchste Stand der Libertarismus, als neuer höchster Stand des Kapitalismus in Grossbritannien aussehen könnte: 

Libertarismus kann definiert werden als eine ökonomische Doktrin, die darauf abzielt, jede Form staatlicher Intervention ausserhalb der Sicherung des Privateigentums gegen Kollektivismus und Staatlichkeit einzuschränken. Der Liberalismus mahnt seine Befürworter zu isolationistischen, aber nicht protektionistischen Positionen. 

Diese Ideologie betrifft auch die Beziehungen zwischen den Staaten. Die Gestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen wäre dann Sache der Akteure, die Handelsabkommen oder -verträge abschliessen, die ihren wirtschaftlichen Interessen entsprechen. 

Der Libertarismus steht für einen vollständig deregulierten Kapitalismus als einziges Gesellschaftssystem, das auf der Anerkennung und dem Schutz der Rechte des Individuums beruht, und somit als politische Option, die jegliche Zwangsmassnahmen in den sozialen Beziehungen verbannt. Er strebt an, die gesellschaftlichen Beziehungen allein auf der moralischen, politischen und wirtschaftlichen Souveränität des Einzelnen zu gründen. 

Diese Ideologie sieht keine systematische Verbindung zwischen individuellem Handeln und einer Form des Gemeinwohls vor. Er verteidigt hingegen einen ethischen Ansatz der Freiheit ohne Rücksicht auf ihre Auswirkungen auf das Gemeinwohl, nach dem Motto: Es ist richtig und wünschenswert, die Freiheit von allen zu fördern, was auch immer die Folgen sein mögen. 

Im Gegensatz zu Liberalen und Neoliberalen, die als Konsequenz der Freiheit im Grunde das Allgemeinwohl anstreben, verfolgen die Anhänger des Libertarismus einen berufsethischen Ansatz: Die Freiheit zu akkumulieren wird zu ihrer eigenen Rechtfertigung. 

Die Autoren warnen jedoch vor Nebenwirkungen: Der Libertarismus ist ökonomisch zwar libertär, aber politisch autoritär. Er ist gegen jeden Umverteilungsmechanismus, der der Bevölkerung grundlegende Lebensbedingungen (Gesundheit, Bildung, Schutz) garantiert, und macht die Unterdrückung der sozialen Bewegungen und die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten, insbesondere durch die Verstärkung der Reise- und Meinungskontrolle, zur bevorzugten Form der Schaffung einer sozialen Ordnung. 

In Ermangelung materieller Instrumente zum Ausgleich der Ungleichheiten und der Verarmung eines Teils der Bevölkerung bleibt nur die Anwendung von Gewalt als Mittel zur Regulierung des gesellschaftlichen Lebens. Die Freiheiten werden zugunsten der Erhaltung der wichtigsten Freiheit geopfert: Der Freiheit zu besitzen und zu akkumulieren.  

Die Befürworter dieser Ideologie scheinen somit die Demokratie nicht mehr zu brauchen, um zu regieren. 

Dass diese Ideologie sich schon längst abgezeichnet hat, zeigt sich in einem Artikel von Rowland Atkinson: „Londons Ausverkauf -  Die Immobilien der Stadt sind zur Geldanlage einer globalen Elite geworden. Die Armen werden hinausgedrängt.“ (2)

Im Kasten finden Sie einige Beispiele, wie sich Grossbritannien seit 2010 unter den Tories auf Kosten der Allgemeinheit kaputtgespart hat. Dabei ist es bei weitem nicht das einzige Land in dieser Lage. 

 

Der Libertarismus hat sich in London schon längst abgezeichnet 

Im Juni 2017 brannte der Grenfell Tower, ein 24-geschossiger Sozialbau in einem ansonsten wohlhabenden Stadtteil Londons, wobei 71 Menschen ums Leben kamen. Die Brandruine des Grenfell Tower wurde zum Symbol für die schleichende soziale Katastrophe einer gnadenlosen Sparpolitik. 

Seit dem Grossbrand fordern viele die Schaffung von neuem, gleichermassen hochwertigem und erschwinglichem Wohnraum. Doch unter den künftigen Hochhäusern Londons befinden sich keine Sozialbauten. Kaum eine der entstehenden Wohnung ist für Normalverdiener erschwinglich und nur sehr wenige befinden sich in öffentlicher Hand, so der Autor. Schlimmer noch: „Diese (neuen) Gebäude sind als Polster für die globalen Eliten gedacht, und sie sehen auch so aus, als wären sie nur dazu da, Geld zu parken. Auf Plakatwänden und in Werbeprospekten adressieren Starachitekten und Immobilienmakler eine um die Welt jettende Klasse der Reichen und Investoren als potenzielle Käufer.“ (3)

Mit dem Brexit machen sich auch Ängste breit, dass viele Banken und Finanzinstitute aus London wegziehen mögen. Deshalb erscheint es nun immer wichtiger, dass der Immobilienmarkt in London eine lukrative Angelegenheit bleibt, schliesslich zählt London 4750 Superreiche, davon 80 Milliardäre. Dass solches Vorhaben mit einer Gentrifizierung oder gar Verschwendung ganzer Stadtteile Londons einhergeht, liegt auf der Hand.

So hat eine Untersuchung durch den Bürgermeister Londons 2017 ergeben, dass rund 21’000 Wohnungen offenbar dauerhaft unbewohnt waren. Laut Transparency International sollen sich in Kensington und Chelsea sogar etwa 10 % aller Wohnungseigentümer mithilfe einer Geheimhaltungsklausel in Steueroasen registriert haben.

 

Kaputtgespart

Seit 2010 regieren in Grossbritannien die Tories. Einige Beispiele, wie sich das Land inzwischen auf Kosten der Allgemeinheit kaputtgespart hat: 

- Kommunen vor dem Bankrott: Die Kommunen tragen die Hauptlast der Sparpolitik. Unter Premierminister David Cameron wurden die Gelder für sie um 49 % beschnitten. Der Mittelenglische Landkreis Northamptonshire wurde für zahlungsunfähig erklärt und aufgelöst. Anfangs 2018 wurde er restrukturiert und zweigeteilt in West- und North-Northamptonshire. 

- Marode Schulen: 2004 hatte de Labour-Regierung unter Tony Blair beschlossen, 55 Mrd. Pfund für die Sanierung der staatlichen weiterführenden Schulen bereitzustellen. Nachdem 2019 die Koalition aus Tories und Liberaldemokraten die Regierung übernommen hatte, fiel dieser Plan als einer der ersten den Sparmassnahmen zum Opfer. 719 Schulen mussten ihre Renovierungspläne aufgeben. 

- Polizei ohne Power: Die Ausgaben des Innenministeriums sind zwischen 2011 und 2018 um 20 % gekürzt worden, die Zahl der Polizeibeamten um 19’000 gesunken.  

- Bei Gericht aussen vor: 2013 sind die Berechtigungskriterien für die Prozesskostenhilfe verschärft worden. Für juristischen Beistand wurden 2018 950 Mio. Pfund weniger ausgegeben als im Jahr 2010. Seit 2010 wurden zudem 230 Strafgerichtshöfe, Land- und Amtsgerichte geschlossen. 

- Kredite statt Sozialleistungen: Die seit 2013 in Kraft getretene Ersetzung von Sozialleistungen durch den sogenannten Universal Credit hat das Einkommen von Familien verkleinert. In den Regionen, in denen der Universal Credit eingeführt wurde, hat sich die Zahl der Menschen, die ihre Lebensmittel von der Armenküche beziehen, mehr als verdoppelt. 

- Schluss mit Lesen: Zwischen 2010 und 2018 haben mehr als 478 Bibliotheken in England, Wales und Schottland dichtgemacht. In den verbliebenen Bibliotheken haben sich die Öffnungszeiten im selben Zeitraum un 230’000 Stunden verkürzt.

- Das Pflegesystem am Rande des Kollaps: Bereits vor der Coronapandemie wurde für die Periode 2018/2019 erwartet, dass die englischen Kommunen und Landkreise ihr Gesamtbudget von 14,5 Mrd. um fast 5 % kürzen würden, obwohl der Bedarf immer grösser wird. Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen über 65 Jahre ist zwischen 2010 und 2017 um 14,3 % gestiegen.

- Jugend ohne Hilfe: Zwischen 2010 und 2018 mussten 600 Jugendzentren schliessen, 139’000 Plätze gingen verloren, 3650 Sozialarbeiter wurden entlassen. Die öffentlichen Ausgaben für kostenlose Anlaufstellen für Jugendliche wurden landesweit um die Hälfte gekürzt.

- Keine finanzielle Unterstützung für Schüler aus ärmeren Verhältnissen: Im November 2010 reduzierte die konservative Regierung Camerons den Fonds für die Jugendlichen in Ausbildung von 560 Mrd. Pfund auf 180 Mrd. Pfund. Als Folge davon verzeichnete fast die Hälfte der Fachhochschulen einen Rückgang der Studierendenzahl. (4)

 

Kommentar

Im Grunde und stark vereinfacht ist der Libertarismus eine Form von Anarchie. Das ist an sich nichts Neues, abgesehen davon, dass die Bewegung der Wirtschaftselite „salonfähiger“ erscheint und daher auch wünschenswert. 

In der Schweiz mögen wir heute, mitten in der  Coronakrise, diese Entwicklung als unerwünscht oder sogar als undenkbares Szenario für unser Land halten. Doch Grossbritannien ist in vielen Hinsichten - politisch, wirtschaftlich, kulturell - schon immer ein Vorreiter gewesen, an dem sich viele Staaten im Verlaufe ihrer Geschichte orientiert haben. 

Ausserdem dürfen wir auch nicht die geopolitischen Gemeinsamkeiten zwischen der Insellage Grossbritanniens und dem Einschluss der Schweiz aus den Augen verlieren. Auch die Schweiz, als Nicht-Mitglied der EU, ist angehalten, Wege zu finden, um den Platz an der Spitze der Weltwirtschaft nicht zu verlieren. In der Coronakrise umso mehr. 

Seit dem Aufkommen des Thatcherismus Ende der 1980er-Jahre haben die Konservativen in Grossbritannien der Bevölkerung eingeschärft, dass der Ausweg aus der Armut nicht mehr Aufgabe vom Staat sei. Unterdessen weiss es die Bevölkerung auch. Optimistische Zukunftsvisionen sind nach dem neoliberalen Modell Thatchers und ihrer Nachfolger mit individuellen Anstrengungen verbunden, und Erfolg wird als Ergebnis des persönlichen Unternehmergeistes gesehen.

Nun mit dem Libertarismus hat der Neoliberalismus seinen Meister gefunden und eine Alternative ist derzeit nicht in Sicht. Die Labour hat das Feld verlassen, sucht im besten Fall Zuflucht in den NGOs oder an der Universität oder, im schlimmsten Fall, verkommt einer französischen Spöttelei zufolge als: „gauche caviar.“ 

In jedem Fall ist das Tabu des Ultraliberalismus gebrochen. Daher ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass die Entwicklung, wie auch immer sie ausgeht, die britische Politik und die Gesellschaft bereits grundlegend verändert haben.

Auch wenn der politische System der Schweiz anders ausgelegt ist, ist das Land gegen den Libertarismus nicht immun, zumal die Bewegung auch hier zulande seine Anhänger hat. 

 

Virginia Bischof Knutti©20.01.2021

 

Quellen:

(1) Marlène Benquet & Théo Bourgeron, L’ère de la finance autoritaire - Quand la City de Londres faisait campagne pour le Brexit, in: Le Monde diplomatique, janvier 2021.

(2) Ronald Atkinson, Londons Ausverkauf - Die Immobilien der Stadt sind zur Geldanlage einer globalen Elite geworden. Die Armen werden hinausgedrängt, in: Edition Le Monde Diplomatique No 25, Grossbritannien, Goodbye and Hello (2019), s. 78-81. https://monde-diplomatique.de/product_info.php?products_id=244746.

(3) Dito. 

(4) Patrick Maguire und Anoosh Chakelian, Kaputtgespart - Die Zahlen und Fakten, in: Edition Le Monde Diplomatique No 25, Grossbritannien, Goodbye and Hello (2019), s. 66-67.  https://monde-diplomatique.de/product_info.php?products_id=244746.

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0