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Mögliche geopolitische Auswirkungen der Coronapandemie - Eine vierteilige Einschätzung

Einführung

Seit dem 27. April 2020 beginnt der Bundesrat allmählich die Massnahmen zum Schutz vor dem neuen Coronavirus COVID-19 zu lockern. Spitäler sollen dann wieder alle Eingriffe vornehmen und medizinische Praxen, Coiffeur-, Massage- und Kosmetikstudios, Baumärkte, Gartencenter, Blumenläden und Gärtnereien den Betrieb aufnehmen können. Wenn es die Entwicklung der Lage zulässt, sollen am 11. Mai die obligatorischen Schulen und die Läden wieder öffnen. Am 8. Juni sollen dann Mittel-, Berufs- und Hochschulen sowie Museen, Zoos und Bibliotheken wieder öffnen. 

 

Damit versucht der Bundesrat, die Coronakrise zu entschärfen und wieder Leben in die Wirtschaft und in die Gesellschaft einzuflössen. Die Pandemie selbst ist aber nicht vom Tisch. Erst wenn der Impfstoff gegen den COVID-19 zugelassen und allen Ländern und Bevölkerungen zugänglich ist, kann die Pandemie als besiegt erklärt werden. Für die Zulassung des Impfstoffs müssen wir uns den Experten zufolge zwischen 12 und 18 Monaten gedulden. Ob alle Länder den Impfstoff auch bekommen, ist eine andere Frage. 

 

Eine Pandemie kommt selten allein. Sie wird begleitet von weiteren Krisen, deren Auswirkungen nicht minder verheerend sein dürften als die Pandemie selbst. Ich werde diesen Zustand als „Metakrise“ bezeichnen. Allein in der Schweiz hat der Bundesrat bis Dato rund 60 Milliarden Franken in die Wirtschaft in Form von Kurzarbeitsgeldern, Krediten und sonstigen finanziellen Unterstützungen einfliessen lassen. Diese Massnahme wird aber die Wirtschaft nicht vollumfänglich retten können. Der Lockdown wird seinen Tribut fordern, viele kleine Unternehmer werden ihre Existenzgrundlage verlieren und die Arbeitslosigkeit wird steigen. Ein grosser Teil dieser 60 Milliarden wird der Bund nolens volens abschreiben müssen, wenn er die Konkurswelle und die Arbeitslosigkeit nicht verschlimmern will. Wir Schweizerinnen und Schweizer können uns jedoch glücklich schätzen. Wir sind ein reiches Land und wir haben eine gesunde Finanzlage. 

 

Andere Staaten hingegen werden es schwerer haben, sich von diesem Desaster zu erholen, insbesondere die Entwicklungsländer, die nebst der medizinischen Herausforderung zusätzlich hilflos zusehen müssen, wie täglich Kapital von ihnen abfliesst, Anleihen teurer werden, ihre Währungen an Wert verlieren und die Preise ihrer Rohstoffe sinken. Das wird für sie verheerende Folgen haben, die sich dann zwangsläufig auf die Industriestaaten auswirken werden, in Form von neuen regionalen Krisen, unkontrollierten Migrationsströmen oder neuen Epidemien. Ausserdem dürfen wir nicht vergessen, dass die gewaltigen Probleme, die vor der Coronakrise an der Tagesordnung waren - Migration, Klimaerwärmung, Kriege und Konflikte -, zwar in den Hintergrund gerückt sind, sich jedoch wegen der Metakrise verschärft haben.   

 

Was bleibt, ist ein stummes Gefühl, eine Mischung aus Leere und Angst vor der Zukunft, vergleichbar mit den Prämissen eines Krieges, und die unvermeidliche Frage: Wer am Ende wird die Rechnung bezahlen? Doch, damit nicht genug. Metakrisen sind schon immer der Anlass zu geopolitischen Verwerfungen oder neuen Weltordnungen gewesen, die ihr gute und ihre schlechte Seite hatten. So hat der Erste Weltkrieg in Europa das Ende der Donaumonarchie und des Osmanischen Reiches bewirkt, ihnen Friedensabkommen auferlegt und den Staatenbund ins Leben gerufen; der Zweite Weltkrieg hat die Welt in zwei ideologische Lager gespalten, die De-Kolonisierung herbeigeführt und die Vereinten Nationen auf den Plan gerufen; die Implosion der Sowjetunion Ende der 1990er-Jahre und der Beitritt Chinas 2001 zur Welthandelorganisation haben den Kapitalismus zum Sieger über die Planwirtschaft erklärt und die Globalisierung eingeläutet. 

 

Die andere Frage, die uns derzeit beschäftigen dürfte, ist: Wie wird die Welt nach Corona aussehen? Die internationale Fachpresse wimmelt nur so von Themen, die je nach politischer Gesinnung und tradierten Weltbildern der Experten wahlweise von einer neuen, oder einer wiederkehrenden, meistens jedoch bedrohlichen bevorstehenden Zeit sinnieren. Es ist im Allgemeinen öfters die Rede vom Ende - das Ende der Globalisierung, das Ende des Kapitalismus, das Ende der U.S.-amerikanischen Weltherrschaft, das politische Ende von Donald Trump… Andere Experten hingegen hoffen, dass die Vernunft siegen und die wirtschaftliche Talfahrt in den Industriestaaten dazu genutzt wird, um dem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum abzuschwören, die Klimafrage am Schopf zu packen und mehr Solidarität mit den Entwicklungsländern zu praktizieren, insbesondere im Bereich Gesundheit. 

 

Man sollte nicht zu früh Lehren aus einem Jahrhundertereignis wie diesem ziehen, denn, wie gesagt, wir beherrschen momentan weder die Coronapandemie noch die übergreifende Metakrise. Sollte eine zweite Pandemiewelle die Welt erfassen und bis dann noch immer kein Impfstoff verfügbar sein, dann sind alle bisher gemachte Prognosen hinfällig. Sollte die zweite Welle jedoch ausbleiben und/oder die Krankheitsfällen sich unter dem Niveau einer „normalen“ Grippe stabilisieren, die laut Weltgesundheitsorganisation jährlich weltweit zwischen 200’000 und 650’000 Todesopfer fordert, dann würde sich der weltweite Lockdown möglicherweise als kapitale Fehleinschätzung erweisen. In diesem Fall besteht kein Zweifel darüber, dass die Politik den Misstand gekonnt ausschlachten würde.

 

Wie auch immer, es gibt andere Themen und Handlungsfelder, die seit längerer Zeit diskutiert werden und neuerdings einen neuen Input bekommen. Ich möchte an dieser Stelle vier Themen aufgreifen und eine kurze, eigene Einschätzung in Form von Essays präsentieren. Auch diese Themen sind derzeit nicht abschliessend zu beurteilen und zu analysieren, doch sie müssen mindestens ansatzweise aufgegriffen werden, denn sie könnten von einem Tag auf den anderen plötzlich brandaktuell werden und die Welt erneut auf den Kopf stellen. Weil ich hier eine kurze Essay-Form gewählt habe, fallen meine Einschätzungen zwangsläufig etwas oberflächlich aus - das ist gewollt. Auch verzichte ich wenn immer möglich auf Zahlen, Prozentsätze und Zitate. Es geht mir darum, nur die Hauptlinien einer Entwicklung zu skizzieren, so wie ich sie einschätze. Ich wende mich an ein Publikum, das die geopolitischen Zusammenhänge erkennen möchte, die in der regionalen Presse zu kurz kommen.  

 

Der Blick ist stets geopolitisch. Das bedeutet, dass er auf mögliche Rivalitäten fokussiert. Ich habe vier Themen gewählt, die jeweils eine Bruchlinie bilden, entlang derer zwei Weltanschauungen sich gegenüberstehen: 

 

1. Globalisierung vs. Regionalisierung

2. Wirtschaftsliberalismus vs. Staatsstrategien

3. Globale Gesundheitspolitik vs. Sozialdarwinismus

4. Klimaschutz vs. Wirtschaftswachstum  

 

Diese vier Einschätzungen werde ich in vier Etappen veröffentlichen. Ein fünftes Thema spare ich mir für später: U.S. Weltherrschaft vs. chinesische Weltherrschaft.

 

Virginia Bischof Knutti©2020 

 

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